Manchmal beginnt Schulverweigerung schleichend: Ein Kind, das morgens länger braucht, um aufzustehen. Ein Jugendlicher, der sich plötzlich häufiger krank meldet. Dann der tägliche Kampf mit den Hausaufgaben und immer häufiger Tränen, Rückzug, Tagebucheinträge und schlechte Noten. Eltern, die zuerst versuchen zu motivieren, zu überreden und zu erklären, merken irgendwann: Hier geht es nicht um Faulheit oder Trotz. Hier geht es um das Überleben!
Für viele neurodivergente junge Menschen ist Schule kein Ort des Lernens, sondern ein Ort der permanenten Überforderung und manchmal auch der Angst. Sie hassen Schule! Nicht, weil sie nicht lernen wollen, sondern, weil die Bedingungen, unter denen Lernen in Schule stattfindet, für ihr Nervensystem schlicht nicht passen. Jeder Mensch möchte lernen, und nicht lernen zu können, kann krank machen!
Was bedeutet „neurodivergent“?
Neurodivergenz beschreibt Menschen, deren Gehirn anders funktioniert als das durchschnittlicher Menschen — z. B. bei der Wahrnehmung, beim Denken, bei der Verarbeitung von Reizen und bei der Regulation von Emotionen. Typische Labels im Neurodivergenzspektrum sind Autismus, ADHS, Hochbegabung, Hochsensibilität, Dyskalkulie, Legasthenie, Dyspraxie, FASD oder Tourette. Manche Kinder fallen früh auf, andere erst in der Pubertät, wenn soziale Anforderungen und Leistungsdruck zunehmen.
Neurodivergent zu sein, bedeutet nicht, „gestört“ zu sein, sondern anders. Und dieses Anderssein führt zu Passungsproblemen, wenn die Umwelt ausschließlich auf „Normal“ eingestellt ist.
Wenn Schule nicht mehr passt
Schule ist für viele neurodivergente Kinder und Jugendliche verbunden mit ständiger Reizüberflutung: das grelle Licht, der Lärmpegel, die Enge, die vielen Gesichter, die ständigen Übergänge. Was für neurotypische Menschen normal und machbar ist, wird für sie zur Dauerbelastung.
Andere erleben Schule als Ort der Unberechenbarkeit: Unterricht fällt aus, Lehrkräfte wechseln, Regeln sind unklar, Aufgaben kommen plötzlich, Pausen sind chaotisch — das kostet enorm viel Energie. Wer sich stark strukturieren muss, gerät hier schnell an seine Grenzen.
Manche Schüler*innen erleben täglich soziale Überforderung: Gruppenarbeiten, Ironie, Blicke, Bewertungen. Für neurodivergente Menschen, die soziale Signale anders lesen oder verarbeiten, ist das ein ständiges Minenfeld. Mobbing ist für sie keine Ausnahme, sondern leider häufig Alltag, manchmal die gesamte Schulzeit hindurch!
Und dann ist da noch der innere Druck: ständig funktionieren, mithalten, gefallen müssen. Viele neurodivergente Schüler*innen strengen sich über Jahre an, um unauffällig zu sein — bis ihr Körper nicht mehr kann.
Schulverweigerung ist oft Selbstschutz
Wenn ein junger Mensch nicht mehr zur Schule geht, wird das gesellschaftlich schnell als Problem gesehen, das „behoben“ werden muss. Aber was, wenn es eine gesunde Reaktion auf ungesunde Lebensbedingungen ist? Dieser Perspektivwechsel ist die erste Voraussetzung für eine Verbesserung der Situation!
Der Begriff „Schulverweigerung“ suggeriert, dass die Schüler*innen absichtlich rebellieren. Sicher kann auch das berechtigte Bedürfnis nach Selbstbestimmung mit dahinterstecken, aber jedes Kind und jeder Jugendliche möchte doch dazugehören, in einer Gruppe gut aufgehoben sein, sich an Vorbildern orientieren können und an sinnvollen und angemessen herausfordernden Aufgaben wachsen. Das alles sollte Schule im Normalfall bieten — kann sie aber immer häufiger nicht! Junge Menschen möchten zur Schule gehen, wenn sie es können, wenn sie spüren „Schule tut mir gut“.
Schulvermeidung ist meistens eine Art Notwehr — ein Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen und eine Umgebung zu vermeiden, die keinen Raum lässt für individuelle Bedürfnisse. Viele Betroffene berichten uns, dass sie gar nicht „nicht lernen“ wollen. Sie wollen nur nicht mehr so lernen müssen — in einer Umgebung, die sie überfordert, beschämt oder verletzt. Sie wollen sicher sein dürfen, gehört werden, mitbestimmen, selbst entscheiden, wann sie bereit sind. Ohne diese Sicherheit ist ihr Nervensystem in einem Überlebensmodus, der nachhaltiges Lernen unmöglich macht.
Man kann daher behaupten, dass diesen jungen Menschen durch die Schule das Menschenrecht auf Bildung verweigert wird, und dass die Schulvermeidung, die sogenannte Schulverweigerung, der verzweifelte Versuch ist, überhaupt wieder lernen zu können bzw. zu dürfen.
Typische Ursachen und Auslöser von Schulvermeidung
Diese Belastungen und Passungsprobleme können sich bei neurodivergenten Schüler*innen so weit summieren, dass Schulverweigerung die logische Konsequenz ist:
- Reizüberflutung durch Lärm, Gerüche, Licht, Berührungen, Unruhe, Konflikte…
- soziale Überforderung und das Gefühl, nicht verstanden oder akzeptiert zu werden
- Dauerstress durch Leistungsdruck, Bewertung, Hausaufgaben, Tests…
- fehlende Rückzugsräume und mangelnde Pausen
- unflexible Strukturen: fixe Stundenpläne, keine Wahlmöglichkeiten, kaum Zeit für eigene Interessen
- körperliche und psychische Erschöpfung bis hin zum Burnout
- traumatische Schulerfahrungen, z. B. durch Mobbing, Strafarbeiten, Beschämung oder ständige Kritik
- fehlende Beziehung: kein Mensch, der wirklich versteht, was in ihnen vorgeht
- erlebte Ungerechtigkeit und Bestrafungen (auch Mitschüler*innen betreffend)
- erlebte Sinnlosigkeit durch Lernstoff ohne Zusammenhang, ohne Praxisbezug oder ohne die Chance auf Lernerfolge
- kognitive Unterforderung, keine Chance, neues zu lernen, stupides Abarbeiten von Anweisungen, ständiges Warten und Langeweile
- kognitive Überforderung z. B. bei Legasthenie oder Dyskalkulie
- Mobbing: die erlebte ständige Bedrohung und Hilflosigkeit bringt oft das Fass zum Überlaufen!
Man stelle sich vor, dass Erwachsene über 10, 12 oder sogar 13 Jahre unter solchen Bedingungen arbeiten müssten. Niemand würde hier bei einem Burnout von Arbeitsverweigerung sprechen! Dabei richten sie in einem jungen Menschen, dessen Hirnstrukturen, dessen Selbstbild und dessen Glaubenssätze sich in der sensibelsten Entwicklungsphase befinden, noch viel mehr Schaden an als bei Erwachsenen!
Der Punkt, an dem nichts mehr geht
Viele Eltern berichten, dass es nicht „den einen Tag“ gab, an dem ihr Kind aufgehört hat, zur Schule zu gehen. Es waren viele kleine Signale: Kopfschmerzen, Bauchweh, Tränen am Morgen, Wutausbrüche, Rückzug Und irgendwann der Satz: „Ich kann da nicht mehr hin.“
Für Lehrkräfte wirkt das oft plötzlich. Doch der eigentliche Zusammenbruch kommt meist nach einer langen Phase stiller Anpassung. Jahre, in denen das Kind sich bemüht hat, „normal“ zu wirken – und irgendwann den Preis dafür bezahlt: mit Erschöpfung, Angst, Selbstzweifeln oder dem völligen Rückzug.
Was bei Schulverweigung nicht hilft
Was nicht hilft, sind sogenannte Belohnungssysteme, Druck, Strafen, Appelle an den Willen oder „Härte zeigen“. Oftmals werden sogar Eltern aufgefordert, es ihren Kindern „zu Hause nicht mehr so schön zu machen“, dabei ist das Elternhaus der einzige Ort, wo die jungen Menschen sich sicher und verstanden fühlen, und die Eltern sind die einzigen verlässlichen Bezugspersonen. Eine defizitorientierte Haltung und das Ausüben jeglicher Form von Druck verschlimmert die Situation, weil es den inneren Konflikt des jungen Menschen verstärkt und sein Nervensystem noch tiefer in den Überlebensmodus treibt.
Zudem ist das derzeitige gesellschaftliche Klima, in dem viele Menschen, die selbst benachteiligt oder unzufrieden sind, einfach nur noch nach unten treten, angestachelt durch gewisse Politiker und Parteien, Gift für sensible junge Menschen. Hier sind Eltern und Lehrkräfte gefragt, die Rückgrat zeigen und sie schützen! Denn gerade die jungen Menschen, die den Mut haben, eine krank machende Umgebung zu verlassen, haben oft das Potenzial, unsere Welt wieder zu einem schöneren Ort für alle zu machen!
Was bei Schulvermeidung helfen kann
- den jungen Menschen zuhören und verstehen, was genau sie überfordert
- akzeptieren, dass Schulverweigerung und Anforderungsvermeidung keine Absicht sind, sondern ein Symptom und ein Hilfeschrei
- Zeit geben, um Vertrauen und Sicherheit wiederherzustellen
- Beziehungen stärken – zu Menschen, nicht zu Systemen
- individuelle Bildungswege finden — Teilzeitmodelle, Fernunterricht, alternative Schulformen, Homeschooling oder Freilernen — daran fehlt es in Deutschland am meisten!
- therapeutische Begleitung – aber bitte nicht, um junge Menschen „wieder funktionsfähig“ zu machen, sondern um ihnen zu helfen, das Erlebte zu verarbeiten, das gestresste Nervensystem zu regulieren und zu ergründen, wie sie gut lernen können
- Coaching, um vorhandene Stärken zu entdecken, den Selbstwert zu stärken, neue Ziele zu setzen und Selbstwirksamkeit wieder zu ermöglichen
- die Eltern ernst nehmen und unterstützen, statt sie unter Druck zu setzen
Schule neu denken
Die eigentliche Frage ist nicht: Wie bringen wir diese Kinder wieder in die Schule? Sondern: Wie müsste Schule sein, damit sie dort sein wollen – und überhaupt dort sein können?
Dafür brauchen wir nicht noch mehr Disziplin, sondern mehr Verständnis für Vielfalt. Nicht noch mehr Tests und Diagnosen, sondern mehr Vertrauen in individuelle Lernwege. Nicht mehr Schulpflicht im juristischen Sinn, sondern eine Bildungsverantwortung, die von allen getragen wird – von den jungen Menschen selbst, von Eltern, Lehrkräften, Politik und Gesellschaft.
Denn Lernen geschieht dort, wo Menschen sich sicher fühlen. Wo sie verstanden werden. Wo sie ihren eigenen Weg gehen dürfen — auch, wenn er anders aussieht als der der anderen.
Ausblick
Schulvermeidung bei neurodivergenten Kindern und Jugendlichen ist kein Randthema. Sie zeigt uns, wo Schule an ihre Grenzen stößt – und wo sie sich verändern könnte. Nicht die Kinder sind das Problem. Das Problem ist, dass wir ihre Signale zu lange überhören.
Vielleicht ist es an der Zeit, diese Verweigerung nicht mehr als Störung zu sehen, sondern als Einladung, genauer hinzusehen. Und gemeinsam zu fragen: Wie kann Schule so gestaltet werden, dass alle Platz darin finden – auch die, die bisher keinen hatten?
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