Einige Fragen, mit denen ich bei meiner Arbeit immer wieder konfrontiert werde, sind es wert, hier auf dem Blog geteilt zu werden. LRS, die Lese-Rechtschreib-Schwäche oder -Störung, gehört zu den Themen, die Eltern häufig beschäftigen.
Sandra (Namen geändert) schrieb mir: “Mein Sohn Benni (8 Jahre) ist im 3. Schuljahr einer jahrgangsübergreifenden Klasse. Ich mache mir Gedanken, ob er LRS hat, denn er liest immer noch nicht flüssig. Gestern wurde beim Elternabend angekündigt, dass es Ende des Schuljahres ein 100 Seiten starkes Buch als Klassenlektüre gibt. Allein der Gedanke dreht mir schon den Magen um. Bei uns sind schon die 10 Minuten tägliche Lesezeit ein Kampf, und es gibt oft Tränen.”
Hier kommt meine Antwort:
Kinder spiegeln unsere Ängste
Liebe Sandra, zunächst einmal ist es im Rahmen des Normalen, dass Kinder mit 8 Jahren noch nicht flüssig lesen. Ich empfehle dir, erst einmal an deinen Ängsten zu arbeiten und mehr Gelassenheit im Umgang mit dem Thema zu finden.
Mach dir bitte bewusst, dass du deine Gefühle in Bezug auf das Lesen und Lesen üben auf deinen Sohn überträgst. Je mehr deine Gedanken um das Thema kreisen, desto mehr kommst du in eine Problemtrance, die letztlich kontraproduktiv ist.
Schau hin, wo deine Ängste herkommen. Aus deiner eigenen Kindheit? Oder befürchtest du, dass andere Kinder einfach besser sind als deins und Benni irgendwann abgehängt wird?
Hinter LRS stecken oft Sehprobleme
Natürlich solltest du nicht außer Acht lassen, dass Benni ja schon sehr lange das Lesen übt bzw. darin unterrichtet wird. Da ist es schon an der Zeit, einmal zu schauen, warum er noch nicht den gewünschten Erfolg hat. Dafür kann es sehr viele Ursachen geben.
Mit am häufigsten sind hier Sehprobleme. Dabei geht es nicht nur um die Sehschärfe, sondern auch um das Zusammenspiel der Augenmuskulatur. Stimmt dieses nicht, kann dein Kind schlecht die zu lesenden Wörter fixieren und mit dem Blick durch die Zeile wandern. Das Lesen ist anstrengend, und irgendwann mag der Betroffene einfach nicht mehr.
Leider werden bei den Reihenuntersuchungen solche Probleme oft übersehen, und selbst Augenärzte stellen nicht immer eine genaue Diagnose. Hilfreich ist meistens eine Sehschule, die es in Augenkliniken oder Augenarztpraxen gibt.
Und noch besser: Speziell dafür ausgebildete Augenoptiker, bekannt als Funktionaloptometristen, können mit speziellen Instrumenten und Messverfahren genau sehen, welches Bild auf der Netzhaut eines Patienten entsteht. Daraus leiten sie Übungen ab, die helfen, auf beiden Augen ein scharfes und kongruentes Bild zu bekommen, eine Art Ergotherapie für die Augen. Mehr erfährst du hier.
Svenka hat dank dieser Methode innerhalb der letzten 2 Wochen vor ihrer Einschulung lesen gelernt wie eine Erwachsene. Davor ging es sehr schwer, obwohl sie schon drei Jahre zuvor das Prinzip begriffen hatte und längst alle Buchstaben kannte. Diese Therapie wurde leider nicht von der Krankenkasse bezahlt, war aber jeden Euro wert. Wie viel Frust haben wir der ganzen Familie damit erspart!
Die Augenärztin hatte mich leider als Eislaufmutter hingestellt, als ich schon vor der Einschulung Svenkas Leseprobleme ansprach. Sie meinte, wenn es bis zur 3. Klasse nicht besser würde, sollten wir uns eine LRS-Diagnose holen! Dabei hatte unsere Ergotherapeutin uns schon auf mögliche Probleme hingewiesen, als Svenka erst 3 Jahre alt war. Störungen der visuellen Wahrnehmung sollten am besten bereits vor der Einschulung behandelt werden, das erspart den Kindern einen langen Leidensweg!
Bei Hörproblemen und einer verzögerten Sprachentwicklung ist es übrigens nicht anders! Wenn ein Kind mit 5 Jahren noch nicht alle Laute deutlich aussprechen kann, ist es höchste Zeit für eine Diagnostik beim Pädaudiologen und bei einer Logopädin. Leider fallen auch hier nicht alle Probleme bei der Vorschuluntersuchung auf. Wer Laute nicht genau unterscheiden und richtig mitsprechen kann, kann auch die Wörter nicht richtig lesen und schreiben.
Ein weiteres Sehproblem ist die Winkelfehlsichtigkeit. Auch diese wird meist vom speziell dafür ausgebildeten Augenoptiker gefunden und durch eine sogenannte Prismenbrille so weit korrigiert, dass das kindliche Auge nicht zu sehr überfordert, aber trotzdem noch zu einer Eigenkorrektur angeregt wird. Bei Svenka wurde übrigens nach Beseitigung der muskulären Dysbalance auch noch eine leichte Winkelfehlsichtigkeit festgestellt, die vorher gar nicht messbar war.
Der Stress, den Kinder durch Seh- oder Hörprobleme haben, kann zusätzlich zu Unkonzentriertheit führen, die wiederum die Zahl der Fehler erhöht und eine LRS-Diagnose wahrscheinlicher macht.
Eine LRS-Diagnose ohne Förderdiagnostik hilft nicht!
Falls Bennis Seh- und Hörvermögen unauffällig ist, kannst du eine Förderdiagnostik bei einer Legasthenie-Trainerin buchen (zum Beispiel bei mir). Hier geht es nicht um eine Diagnose (die darf nur ein Arzt stellen), sondern darum, genau zu ermitteln, wo genau dein Sohn beim Lesen lernen momentan steht, und wie du ihn konkret bei den nächsten Schritten unterstützen kannst.
Vielleicht stellt ihr fest, dass Benni von einem speziellen Lesetraining profitieren würde, oder dass eine LRS-Diagnose ihm in der Schule helfen könnte. Das muss nicht so sein, und wenn es so ist, dann ist das kein Weltuntergang! Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, in eine gezielte Förderung einzusteigen.
Was du selbst noch tun kannst, ist den Lesestoff mit Benni zusammen anhand seiner Interessen auszuwählen. Mache das gemeinsame Lesen zu etwas Angenehmem für ihn, indem du es mit gemeinsamen Hobbys und Quality-Time verbindest! Spanne dafür auch den Papa und die gesamte Familie mit ein! Spiel- und Bastelanleitungen, Kochrezepte, Einkaufszettel usw. sind auch Leseübungen!
Nicht zuletzt: du bist das wichtigste Vorbild in Sachen Lesen! Schreib mir gerne, welche Tipps du umsetzen konntest und natürlich jederzeit, falls du noch Fragen hast bzw. Hilfe bei der Suche nach der richtigen ExpertIn für Hören und / oder Sehen möchtest.
Soweit meine Antwort an die Mama. Benni hat tatsächlich ein Sehtraining absolviert und in meinem Coaching in nur 5 Stunden mit geeigneten Übungen seine Lesefähigkeit enorm gesteigert. Er möchte zum Gymnasium, und das wird aller Voraussicht nach auch klappen.
Fehler ist nicht gleich Fehler!
Als zweites Fallbeispiel möchte ich wiederum meine Tochter Svenka anführen. Sie hat in der 3. Klasse im Diktat eine 4 bekommen und musste als Berichtigung das komplette Diktat noch einmal schreiben. Wir machten das sogar zweimal, und am Ende war der Frust groß.
Was war passiert? Svenka hatte in diesem 50 Wörter umfassenden Diktat bei allen drei Versuchen 6 Fehler. Nur waren diese Fehler komplett unterschiedlich! Also beruhten sie nicht darauf, dass Svenka die Rechtschreibregeln noch nicht beherrschte, und Üben nach Lehrbuch war hier nicht die richtige Strategie! Was hätten wir denn daraus üben sollen?
Also hörte ich als Mutter Svenka erst einmal genau zu…
Hochbegabte Kinder — oftmals schnelle Denker und langsame Schreiber
Nachdem etwa die Hälfte der Fehler fehlende Buchstaben waren, experimentierten wir ein wenig mit dem Diktier-Tempo. Am Ende stellte sich heraus, dass Svenka bei zu langsamem Diktieren den Fokus verlor, auf der anderen Seite aber noch zu langsam schrieb. Dass unsere Diagnose stimmte, erkannten wir daran, dass Svenka beim freien Schreiben fast nie Buchstaben vergaß. Bei vielen hochbegabten Kindern gibt es irgendwann eine Phase mit vielen Schusselfehlern, weil sie lernen müssen, ihr hohes Denk- und langsames Schreibtempo zu synchronisieren. Hierbei ist das innere Mitsprechen der Schlüssel zum Erfolg.
Dazu kam bei Svenka, dass sie allgemein durch ihre Passungsprobleme sehr belastet war und den Stift verkrampft hielt. Auch diese zusätzliche Anstrengung und die Unkonzentriertheit durch ihre Ängste erhöhten natürlich die Fehlerzahl.
Nach dem Schulwechsel hatte Svenka nie wieder Probleme mit Schreibfehlern.
Ein ganzheitlicher Blick hilft weiter!
Bei LRS ist wie bei allen Lernproblemen ein ganzheitlicher Blick gefragt. Ich hatte in meiner Praxis schon einige Kinder, die jahrelange LRS-Förderung über sich ergehen lassen mussten, während die Ursachen der Probleme außen vor blieben und die Begabungen der Kinder gar nicht berücksichtigt wurden. Irgendwann hatten sie resigniert und sich damit abgefunden, dass sie eben eine Störung haben, die ihnen dauerhaft zusätzliche Anstrengungen abverlangt, ohne dass sie die Chance auf einen angemessenen Erfolg haben. Ich bin dann jedes Mal traurig über so viel vergeudetes Potenzial und gleichzeitig froh, dass ich in wenigen Stunden eine Lösung finden und das Selbstvertrauen des betroffenen Kindes wiederherstellen kann.